Dir geht es so. Mir geht es so. Und das seit etlichen Jahren: Wir sinken immer und immer wieder unbemerkt in uns zusammen, im Sitzen, Stehen und im Gehen. Unser Oberkörper rundet sich und kollabiert, der Kopf steht nach vorne und der Nacken knickt ein.
Unser Körper ist aus dem Lot geraten. Dauerhaft. Und das schon recht bald nachdem wir Stehen und Laufen gelernt haben. Damals, bei unseren ersten Schritten, waren wir noch perfekt aufrecht.
Was ist uns seit dem passiert, das unseren Rücken so gerundet und unseren Körper so aus der Form gebracht und gestresst hat?.. Unsere Kultur. Etliche Gepflogenheiten unserer modernen Lebensweise tragen zum Verlust unserer natürlichen, aufrechten Körperhaltung bei. Und das sogar schon, bevor wir stehen und gehen lernten!
Der Rundrücken wird bereits im Kinderwagen gefördert, wo die Kleinen oft C-förmig mit nach hinten gekipptem Becken sitz-liegen. Im weiteren Verlauf geht es dann bei den Meisten für eine sehr kurze Zeit in perfekter Auf- und Ausrichtung auf die tapsigen Beine … um dann bald auf Kindergarten- und Schulstühlen wieder zusammen zu sacken.
Da auch unsere Eltern mit großer Wahrscheinlichkeit diese (Nicht-)Bewegungskultur erfahren haben, lernen wir von den Älteren, wie man mit rundem Rücken, vorgeneigtem Kopf – und Rückenschmerzen – sitzt, steht und geht.
Schau dir diese Zusammenhänge in einem Vortrag von Kathleen Porter an. Hier siehst du auch, wie es viele andere Menschen und Kulturen rund um den Globus schaffen, ihr natürliches Körper- und Haltungsgefühl und eine ideale, aufrechte, beschwerdefreie Körperhaltung bis ins hohe Alter beizubehalten. Diese entspannte Kraft und Grazie ist faszinierend! Dieser und der Beitrag unten sind auf Englisch, aber allein die Bilder sprechen für sich:
Buchtipp (englisch): Kathleen Porter. „Natural Posture for Pain-Free Living – The Practise of Mindful Alignment“*
Die Körperhaltung an der Linie der Schwerkraft ausrichten
Der vernünftige Ansatz für eine anatomisch und biomechanisch sinnvolle und damit ökonomisch aufgerichtete Körperhaltung lautet:
Bringe Füße – Knie – Becken – Brustkorb – Kopf in eine exakt an der Schwerkraft ausgerichtete Anordnung, so dass deine Körperhaltung einer Lotrechten folgt. Dadurch „stapelst“ du deinen Körper genau so übereinander, dass er senkrecht ins Skelett sinken kann. Wenn du dich so ausgerichtet hast, ist dein Rücken aufrecht und entspannt!
Dein Rücken ist dabei nicht gestreckt oder gar überstreckt, sondern einfach locker flach und lang. Vergiss die „S-Form“ mit den angeblich natürlichen und empfehlenswerten deutlichen Lordosen (Rundung nach vorne) und Kyphosen (Rundung nach hinten) zumindest in diesem Zusammenhang. Stelle dir deine Wirbelsäule eher als ein „J“ vor, lang und gleichmäßig und nur in der unteren(!) Lendenwirbelsäule, im Übergang zum Kreuzbein, etwas nach vorne gekippt (lordosiert), so dass der Po leicht nach hinten heraus steht.
Aufrechte Körperhaltung im Sitzen
Das erste Foto zeigt eine Variante der Haltung, die die Meisten von uns täglich einnehmen: rund (C-förmig) und kollabiert. Das ist die längste Zeit auch meine Haltung – gewesen!;). Durch den gerundeten oberen Rücken geht der Hals nach vorne, und da wir aber in der Regel nicht nach unten, sondern nach vorne schauen wollen, z.B. Richtung Bildschirm, kommt es zu einem Knick, einer Überstreckung im oberen Nacken (obere HWS). Wer die längste Zeit (unbewusst) so sitzt und steht, dem verhilft selbst tägliches Fitnesstraining nicht zu einer natürlich aufrechten Haltung.
Bei dem zweiten Foto habe ich eine bemüht aufrechte, überstreckte Haltung eingenommen. Selbst wenn du den Kopf dabei nicht so hoch nimmst: Die hierfür nötige Daueranspannung der Rückenmuskulatur und der Hüftbeuger (um das Becken angestrengt nach vorne zu kippen) ist nicht lange aufrecht zu halten – dann sinkt man auch schon wieder zu Position 1.
Das dritte Foto in dieser Reihe zeigt die entspannt aufrechte Körperhaltung nach dem Prinzip, das Porter und Gokhale lehren. Du willst hierbei gerade sitzen, aber nicht aus Muskelkraft heraus, sondern dich entspannt „in die Knochen“ sinken lassen:
- Wenn du kein Keilkissen oder eine spezielle nach vorne geneigte Sitzfläche hast: Rutsche bis auf die Stuhlkante nach vorne, stelle ein Bein nach vorne und das andere Bein mehr oder weniger weit nach hinten (je nach Körperproportionen), dadurch kann das Becken frei nach vorne kippen. Setze dich so auf die Kante, dass dein Gesäß ein wenig nach hinten raus steht, das Becken also nach vorne geneigt ist. Am besten „hakst“ du dich dabei mit der Vorderkante der Sitzbeinhöcker – die Knochen, auf denen du sitzt – an der Stuhlkante ein. Wenn du mit den Sitzbeinknochen über die Kante hinweg rutschst, dann hängst du wirklich nur noch mit einem Stückchen Pomuskel am Stuhl, was ich – mit wenig Sitzfleisch – nicht optimal finde.
- Experimentiere mit der Beckenneigung: Kippe dein Becken stärker nach vorne, so dass du im Hohlkreuz bist und etwas mehr nach vorne geneigt sitzt. Dein vorderes Bein verhindert, dass du vorwärts vom Stuhl rutschst. Strecke auch die Brust ein wenig vor.
- Entspanne dich nun: Lasse deinen Brustkorb herunter sinken, auch dein Becken neigt sich wieder ein klein wenig nach hinten (=richtet sich etwas auf, ist aber nach wie vor leicht nach vorne geneigt). Du sitzt nun ganz entspannt mit langem geraden Bauch und Rücken. Wenn du in den Rundrücken (siehe erstes Foto) fällst, war dein Becken nicht weit genug nach vorne gekippt. Genieße es, mit weichen, völlig entspannten Bauch- und Rückenmuskeln aufrecht sitzend von deinem Becken und deiner Wirbelsäule getragen zu werden. :)
- Schultern und Nacken: Nimm zunächst eine Schulter etwas nach oben, weit nach hinten und lasse sie hinten komplett herunter sinken. Dann die andere Schulter: hoch, nach hinten, runter sinken lassen. Lasse deine Schultern und Arme so hängen. Das einzige, was mit aktiver Muskelspannung an der Oberkörperhaltung verändert wird, ist, dass wir den Kopf etwas nach hinten nehmen, das Kinn dabei aber unten lassen, Blick geradeaus. Auch der Nacken längt sich so und der Kopf befindet sich wieder etwas mehr hinten, über dem Brustkorb, wo er hingehört. Vermeide es, beim Kopf nach hinten nehmen die Brustwirbelsäule vor zu strecken. Stelle dir lieber vor, dass dein Kopf durch Marionettenschnüre an deinem Scheitel und an deinem Hinterkopf sanft nach oben hinten gezogen wird.
Hier demonstriere ich die natürlich aufrechte Sitzposition im Video:
Siehe auch die Anleitung durch Esther Gokhale:
Buchtipp: Esther Gokhale. „Nie wieder Rückenschmerzen – Dauerhafte Besserung in 8 Schritten“*
Experimentiere mit dieser Haltung – natürlich auch im Stehen und Gehen! – ab jetzt jeden Tag immer wieder und wieder! Schaue dir auch noch einige Male die weltweiten KörperhaltungsmeisterInnen an und lerne vom zusehen. Ich bin jedenfalls schon fleißig dabei. :) Es sind Jahrzehnte der schlechten Gewohnheit und des mangelnden natürlichen Haltungsgefühls, mit denen wir es dabei zu tun bekommen. Aber wir können uns das zurück holen.
Wenn du das entspannt aufrechte Sittzen beispielsweise beim Essen ausprobierst wirst du feststellen können, wie schön frei das Essen so den gelängten Körper herabgleiten kann. Alle Gefäße und Nervenbahnen, Herz, Lunge, Magen – alle Gewebe und Organe sind bei einer entspannt aufrechten Körperhaltung endlich ent-staut und frei.
Wenn wir zunehmend diese Körperhaltung einnehmen, modellieren wir unser Bindegewebe (das „Faszienorgan“) nach und nach sanft um. Wir werden lockerer und beweglicher, selbst ohne speziell Beweglichkeit zu trainieren, wie etwa regelmäßig zu dehnen, da die Muskulatur und damit auch das Bindegewebe nicht mehr auf Daueranspannung und Verspannung eingestellt ist. Um größere und hartnäckigere Verhärtungen und Verklebungen zu lösen, empfiehlt sich begleitend eine faszientherapeutische Behandlung. (Siehe auch Stichwort „Rolfing“).
Vor allem bei älteren Menschen, die schon sehr lange in eine extreme Rundrücken-Haltung gewachsen sind, kann es sein, dass die Veränderungen auch schon manifester und verknöchert sind. Dies lässt sich nicht mehr willkürlich revidieren, aber auch hier gilt: Es zählt jeder Tag und jeder Millimeter in eine bewusstere, aufrechtere Körperhaltung.
Viel Entdeckerfreude beim natürlich aufrechten Sitzen, Stehen und Gehen wünscht Dir
Dein fit-bleiben Coach Michael
Empfehlung: Zu neuem Körpergefühl und Alignment durch die 30Tage-Pilates-Challenge für Einsteiger und Wiedereinsteiger für daheim. Mit Kerstin Bredehorn:
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